Ins Herz des Labyrinths – Ein radikaler Christ in der „christlichen“ Gesellschaft
Zu Walter Warnachs gesammelten Schriften
VON PETER HAMM
In seinem liebevoll weitenden Vorwort zu den gesammelten Schriften Walter Warnachs, der zusammen mit ihm, Werner Trott zu Solz und HAP Grieshaber in den sechziger Jahren die ebenso lebendige wie kurzlebige Zeitschrift Labyrinth herausgab, beteuert Heinrich Böll, dieser Mann, dem er mehr verdanke, als dieser wissen könne, sei „keiner der ominösen Stillen im Lande oder gar eine verborgene graue Eminenz“, sondern er spreche „offen und öffentlich“.
Ich fürchte, Heinrich Böll verwechselt da leider seine und Warnachs Heimatstadt Köln, in welcher der inzwischen Dreiundsiebzigjährige – zumindest in einem kleinen Kreis – hohe Reputation genießt, mit der Öffentlichkeit; man mache nur einmal die Probe aufs Exempel und verlange irgendwo sonst in einer als gut sortiert geltenden Buchhandlung das Buch von Walter Warnach, Wege im Labyrinth. Ich möchte wetten, daß es – Ausnahmen bestätigen die Regel – nicht vorrätig sein wird, sondern erst bestellt werden muß.
Die Gründe für diese Ignoranz gegenüber einem Mann wie Walter Warnach erscheinen mir ebenso rätselhaft wie symptomatisch; rätselhaft, weil Warnach einprägsame Formeln wie kein anderer für den Bewußtseinszustand der deutschen Nachkriegsgesellschaft gefunden hat – ich erwähne hier nur einmal die von der „Verlorenen Niederlage“ (die Warnach bereits 1955 konstatierte) und symptomatisch, weil eben gerade dies, was derartige Definitionen so genau festhalten, so genau kaum jemand wissen wollte. Alle waren schließlich mit Wiederaufbau beschäftigt, mit Renovation und Restauration, und da war einer im Wege, der – wie Warnach – nicht nur von der deutschen Schuld sprach, was als eine Art Pflichtübung zunächst noch viele taten, sondern der diese Schuld geradezu als Gottesgeschenk, zumindest als die allergrößte Chance für eine Neubesinnung begriffen haben wollte und also anschrieb gegen die Illusion von der Wiederherstellung einer Ordnung, aus der heraus seiner Meinung nach ja doch diese deutsche Schuld erwachsen war.
„Endlich von dem Starrsinn zu lassen, die geschichtliche Wunde durch den Schein einer Ordnung verdecken zu wollen, die nur noch Frevel länger eine christliche nennen kann, und uns offenzuhalten für die ganz und gar leidvolle Wirklichkeit, die selbst das Werk unseres schuldhaften Versagens ist“: Dies verlangte Walter Warnach in der unmittelbaren Nachkriegszeit so ernsthaft wie vergeblich von den Deutschen, die auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs längst damit beschäftigt waren, sich der leidvollen Wirklichkeit mit Hilfe von Ordnungssystemen zu entziehen, die nicht nur neue Schuld auf sie laden, sondern auch die Teilung des Vaterlandes, die ja Ergebnis ihrer, alten Schuld war, zementieren mußten.
In dem umfangreichsten und bereits 1952 einmal in Buchform publizierten Essay „Die Welt des Schmerzes“ hat Warnach die beiden Ordnungssysteme, denen sich die Deutschen auslieferten, so beurteilt: „Die kapitalistische Wirtschaftsordnung ist nichts anderes als der bewußt oder unbewußt blasphemische Versuch, den Schmerz in den Dienst zu nehmen und sich zum Vollstrecker des Fluches der Erde aufzuwerfen.“ Und (auf die marxistisch verwalteten Länder gemünzt): „Sie heben den Fluch der Erde nicht auf, dafür segnen sie die Arbeit.“
Was aber wäre nach Warnach statt dessen notwendig gewesen? „Allem vorweg die Absage an die Illusion, mit gleich welchen politischen Konzepten, die doch immer nur tiefer in die Kette der Vermittlungen zwingen, Abhilfe schaffen zu können, und das Eingeständnis unserer totalen Ratlosigkeit.“
Dieses Eingeständnis wagten aber allenfalls ein paar Künstler – Böll unter ihnen oder auch Bölls Freund Beuys (dessen Arbeit durch Warnach, der lange an der Düsseldorfer Kunstakademie Philosophie lehrte, übrigens ihre früheste Rechtfertigung erfuhr) –, und sie machten sich mit diesem Eingeständnis ihrer totalen Ratlosigkeit nicht eben beliebt bei den neuen Machthabern, denen alles daran gelegen war, als gute Ratgeber zu erscheinen, wenn sie mittels ihrer „Wohlstandsnarkose“ (Warnach) den Traum von einer sinnvollen und „freiheidichen Ordnung“ nährten, zu deren Aufrechterhaltung auch eine neue Wehrmacht her mußte.
Wer da, wie Warnach, den „Zustand der vollkommenen Machtlosigkeit“ als Voraussetzung für ein sinnvolles Sein verstand und Sätze formulierte wie diesen: „War in der Einwilligung der Massen in die Untaten des NS-Regimes noch viel Verführung und Nötigung im Spiel, so stürzte man sich jetzt ungenötigt und mit Wollust in das Abenteuer der Selbstverneinung“, der hatte bei den Agenten des Wirtschaftswunders, die sich ernstlich als Christen ausgaben, ein für allemal verspielt.
Vergeblich hielt Warnach ihnen entgegen: „Wodurch könnte sich die Scheinhaftigkeit einer „christlichen Lebensordnung’ brutaler offenbaren als durch die Instinktlosigkeit der Christen, zu glauben, sie könnten ohne ein Opfer aller allen ein Leben in Wohlstand und Behagen garantieren? Wie kommt es nur, daß diese Wohlstandsordnung so von Unbehagen trieft?“
Solche Sätze wurden ebenso ignoriert wie jene, in denen Warnach unsere neue Schuld begriff als „unseren Entschluß, das Angebot einer großen geschichtlichen Gnade, als die wir das furchtbare Faktum der Teilung durch die Mitte zu verstehen haben, zurückzuweisen, ja, den Deutschen jenseits dieser verwundenden Grenze nur das eine zu wünschen, unseren Traum mitzuträumen, und wie ungezogene Kinder gar noch böse zu sein, daß sie nicht mitträumen wollen, nicht mitträumen können, weil sie offenbar einen anderen, weniger bunten, weniger behaglichen Traum haben, der aber mit der Wirklichkeit wenigstens das eine gemeinsam hat: das Leiden. Es ist der entwürdigendste Schlag ins Gesicht der westlichen Christenheit, daß die sozialistische Lebensordnung, die auch nur ein Traum ist, dennoch unvergleichlich mehr von einer Opferordnung hat als die ‚christliche‘ hierzulande“.
Man sieht: Walter Warnach, der sich als Christ begreift und dessen Denken maßgeblich von den Autoren des renouveau catholique wie Bloy, Peguy und Bernanos geprägt ist, kann das Wort christlich nur in Anführungszeichen verwenden, er hat erfahren müssen, daß gerade jene, die das Wort am lautesten im Munde führen, allen voran die sich christlich nennende Partei, am heftigsten die Aufrichtung einer „Ordnung“ betreiben, die nur verdient, beseitigt zu werden.
Die Rigorosität, mit der Warnach den „Bann der Gegenschöpfung“ bekämpft, der „den Dingen sichtbarlich den Segen genommen hat, mehr zu sein als ein Behelf, als eine Übersetzung unserer vergänglichsten Bedürfnisse“, kann bei den ewigen Vermittlern, die im Staat und in den Kirchen den Ton angeben, nur Wut und Haß auslösen, im besten Falle Verzweiflung. Ihre viel beschworene „Freiheit“ entlarvt Warnach als rhetorische Geste: „Man hat die Rhetorik der Freiheit geschaffen, um der Freiheit endgültig den Garaus zu machen“, und (als habe Warnach schon 1950 unseren mischgen Minister Zimmermann vorausgesehen): „Alles deutet darauf hin, daß man in nicht zu ferner Zeit den Namen der Freiheit durch den der Ordnung ersetzt haben wird... es wird eine gnadenlose Ordnung sein.“
Warnachs Gewißheit, daß „Freiheit ist, wo Freude ist, und nur, wo Freude ist“, muß für die Repräsentanten unserer freudlosen Gesellschaft, für die ja nicht nur die Unfähigkeit zu trauern, sondern ebenso die Unfähigkeit sich zu freuen so charakteristisch ist, eine unerträgliche Provokation darstellen. In einer Gesellschaft, in der nur noch Haben und Rechthaben zählen – wobei nur der, der hat, auch recht haben kann –, ist jeder, der auf die Dialektik von Leiden und Freude insistiert und das Eingeständnis der Ratlosigkeit propagiert, ein Störenfried, ein Querulant oder auch ein „Entarteter“ (dieses Wort ist ja neuerdings durch den bayerischen Ministerpräsidenten wieder als Waffe im Kampf für die totale Ordnung freigegeben worden).
Ein Christ weiß freilich, daß selbst die Heiligen, bevor sie kanonisiert wurden, alle erst einmal als Querulanten abgetan und verfolgt wurden. Simone Weil, die – obwohl sie es verschmähte, sich taufen zu lassen – selbst „das Zeug zur Heiligen“ hatte, wie T. S. Eliot meinte, der gleichzeitig wohl zu Recht den Verdacht äußerte, „daß sie bisweilen unerträglich war“, diese Simone Weil, auf die Warnach als einer der ersten in Deutschland aufmerksam machte, schrieb einmal an Maurice Schumann: „Nebenbei bemerkt liebe ich die Art nicht, wie die Christen von der Heiligkeit zu reden sich angewöhnt haben. Sie reden davon wie ein Bankier, ein Ingenieur, ein kultivierter General vom Genie des Dichters reden würden – eine schöne Sache, von der sie sich ausgeschlossen wissen, die sie vielleicht lieben und bewundern, aber nicht einen Augenblick kommt es ihnen in den Sinn, sich deswegen Vorwürfe zu machen, daß sie sie nicht besitzen. Dabei scheint mir, daß in Wirklichkeit für den Christen Heiligkeit das Minimum ist.“
Wenn ich die 31 Essays lese, die Warnachs Band „Wege im Labyrinth unter den Zwischentiteln „Die verlorene Niederlage“, „Ortsbestimmung des Dichters“ und „Die Wirklichkeit der Kunst“ versammelt, habe ich den Eindruck, daß Warnach beseelt ist vom Geiste dieser modernen Mystikerin Simone Weil. Auch für ihn hat das Unglück die „untrüglichste Form der Gottverbundenheit“, weshalb er alle Systeme bekämpft, die suggerieren, den Schmerz beseitigen zu können, und ihn gerade dadurch nur noch vermehren; auch er hat davon geträumt, „zwischen ‚ratio‘ und ,religio‘ den ungebrochenen Zusammenhang wiederherzustellen, der... in der hohen Zeit des griechischen Denkens von Heraklit bis Platon bestand“, und weiß doch nur zu genau, daß „die Ratio den Pakt mit der Religion gebrochen und sich unter den Fahnen der Naturwissenschaften in die Sklaverei der Materie und Zeitlichkeit begeben“ hat, und das heißt, in die „Gegenchristlichkeit“ des absoluten Materialismus, dessen – jetzt so bedrohlich näher gerückte „letzte Konsequenz ... die Vernichtung der Materie“ ist („von Gnaden des neuen Sakraments von Bikini wird der Mensch, auf eine andere Weise allerdings, als er sich träumen ließ, realiter Geist“, so zitiert Warnach Bernanos).
Auch die Rolle, die in Warnachs Denken die Künste – vor allem Bildende Kunst und Literatur – einnehmen, stellt ihn an die Seite der Weil, die als das Merkmal der Inkarnation Gottes in der Welt die Schönheit ansah: „Wir haben keine Auswahl an Heilmitteln, es gibt nur eines, ein einziges Mittel nur macht die Monotonie erträglich, und das ist ein Abglanz der Ewigkeit: die Schönheit“. Allerdings ist Warnachs Schönheitsbegriff ein ganz anderer als der eher klassizistisch geprägte der Französin; Warnach weiß, „daß der Künstler weder zu der Masse der Funktionsträger gehört noch zu dem Stab der Planer und daß ihm innerhalb der modernen technischen Gesellschaft kein anderer Platz offensteht als der des Outsiders, und das heißt also genaugenommen: kein Platz“. Und er sagt: „Kunst ist heute nur Kunst unter der Bedingung, daß sie unter keiner Bedingung steht, autonom sich selbst das Gesetz gebende Kunst ist.“ Unter dieser Voraussetzung kann Warnach früh auch der Avantgarde gerecht werden, etwa einem Beuys, der „mit den ärmsten Materialien Bildzeichen schafft, von denen man nicht zuviel sagt, wenn man sie Chiffren einer geistlichen Wirklichkeit nennt“.
Auf Beuys’ frühe Anerkennung durch Warnach kommt auch Böll in seinem Vorwort zu sprechen, und was er dabei über den als „blasphemisch“ angeprangerten Auftritt von Beuys in Aachen sagt, „wo er mit dem umgeknickten Kreuz provozierte und von Katholiken die Nase blutig geschlagen bekam“, scheint direkt auf den Blasphemie-Vorwurf gegen Achternbuschs Film „Das Gespenst“ bezogen: „Ist Blasphemie möglicherweise die letzte, verzweifelte Wahrnehmung Gottes, der ja in der Lästerung immerhin noch wahrgenommen wird, während man ihn im Himbeerwasser der scheinbar „heilen Welt‘ möglicherweise ertränkt?“ Die völlige Immunisierung gegen dieses „Himbeerwasser“ verdankt Böll nicht zuletzt Walter Warnach.
Ich möchte nicht verschweigen, daß mir vieles in Warnachs Schriften auch fremd vorkommt, unverständlich ist, etwa seine verehrungsvolle Haltung gegenüber einem Manne wie Carl Schmitt, der sich doch schon allein durch seinen exzessiven Antisemitismus vor einem Manne wie Warnach unmöglich gemacht haben müßte, oder auch die Art und Weise, in der Warnach den alten Reichsgedanken ernst nimmt (obwohl er dann doch wieder Karl V. für dessen Abdankung und den Gang ins Kloster rühmt: „Er verzichtete sozusagen von Rechts wegen auf den Besitz von Macht“).
Was Warnach freilich die meisten Leser kosten dürfte, ist eben sein radikales Christentum (das vielen offensichtlich ja auch den Zugang zu Simone Weil versperrt). Seltsamerweise scheint in dieser sich christlich nennenden Gesellschaft nichts so sehr Widerwillen hervorzurufen wie ernsthaftes christliches Denken, und das heißt ja stets: ein Denken, welches das Bestehende total verwirft.
Dabei fordert Warnach nicht dazu auf, sich dem Bestehenden einfach zu verschließen, vielmehr es zu durchdringen; sein ganzes Denken zielt darauf, ins „Herz der Wirklichkeit zu gelangen, wo sie im Streit der Gegensätze den Zugang zur Mitte offenhält. Es ist der Weg ins Herz des Labyrinths, in dem wir uns selber zum Minotaurus werden. Die Christenheit des Mittelalters wußte, daß dieser Weg ins Labyrinth heilsamer Schulderfahrung unerläßlich ist. Deshalb bezeichnete sie am Eingang ihrer Kathedralen eine Stelle des Fußbodens als Labyrinth, auf dem die Büßer und Beter sich kniend in immer engeren Windungen der Mitte zubewegten, um, dort angelangt, das Bild des Gekreuzigten zu verehren“.
In Peter Handkes neuestem Buch „Der Chinese des Schmerzes“ äußert ein Maler: „In manchen Kulturen finden sich Zeichnungen vor den Schwellen, in der Form eines Labyrinths; diese Zeichnungen sollen, wie man sagt, weniger abwehren als zum Innehalten bringen und einen Umweg vorschlagen.“ Es ist tröstlich für mich, daß Warnachs Denken bei einem viel Jüngeren, der dazuhin mit Warnachs Werk vermutlich nie in Berührung gekommen ist, seine lebendige Fortsetzung findet; die Berührung der Geister beruht eben nicht auf irgendeiner Art von Gedankenaustausch, sondern einzig und allein auf dem Grade der Untröstlichkeit, mit der sie auf die Vorläufigkeit dessen, was wir Wirklichkeit nennen, reagieren.
Walter Warnach: „Wege im Labyrinth“, mit einem Vorwort von Heinrich Böll, Herausgeber Karl-Dieter Ulke; Verlag Günther Neske, Pfullingen, 1982; 940 S., 48,– DM.
Die Rezension erschien in Die Zeit, 12. August 1983.